Sie hatte ihre Tochter seit Jahren nicht gesehen
Die Häuser, die am Fenster ihres Zugabteils vorbeihuschen, sind bunter, die Menschen fröhlicher, die Wälder weniger bedrohlich als bei der Hinfahrt. Sie hat es geschafft. Es ist schwer gewesen. Vielleicht war das die anstrengendste Reise ihres Lebens. Aber es hat sich gelohnt. Sie fühlt sich leicht und frei und froh wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Nun kann Weihnachten werden.
Sie hatte ihre Tochter seit Jahren nicht gesehen. Die Tochter und die Enkelkinder. Die staunten nicht schlecht, als sie vor der Tür stand. „Hallo“, stotterte sie, „ich bin eure Oma.“ Dabei war ihr Herzschlag beinahe lauter als ihre Stimme. Verständnislos schauten die beiden sie an. Emma, mein Gott, wie groß war sie geworden! Und Paula – die hatte sie überhaupt noch nicht gesehen. „Darf ich reinkommen?“
Und dann stand da plötzlich auch ihre Tochter. Lena. Verlegen. Unsicher. Sie hielt ihr die Hand hin. Feucht war sie, und sie zitterte. Dann sagte Lena: „Komm rein!“, und sie trat in das Haus, das sie noch nicht kannte.
„Und du bist jetzt den ganzen Weg nur wegen uns gefahren?“, fragte Lena, weil man ja irgendetwas sagen musste. „Von Darmstadt bis nach Rosenheim? Wie lange …?“
„Nicht so wichtig“, lächelte sie. „Ich wär’ noch viel weiter gefahren.“
„Willst du was trinken?“, fragte Lena. „Bestimmt hast du Durst. Aber jetzt zieh erst mal den dicken Wintermantel aus.“
Was sollte sie sagen? Ihr fiel nichts Gescheites ein. So lange hatten sie nicht miteinander geredet. Was sagte man da? „Groß ist Emma geworden. Und Paula. Meine Güte, die sieht dir ja so ähnlich!“
Sie saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, ganz vorne am Rand, damit sie gleich wieder aufstehen konnte, wenn das hier schiefgehen würde. Es war oft genug schiefgegangen vor sechs, vor acht, vor zehn Jahren. Immer wieder war es schiefgegangen. Dabei hatte sie sich Mühe gegeben, jedes Mal. Aber sie hatten aneinander vorbeigeredet. Aneinander vorbei gedacht und gefühlt und geglaubt und -gelebt. Am Ende war Lena meist wütend aufgesprungen. „Das ist mein Leben! Halt dich da raus!“
Aber sie war doch die Mutter! Konnte sie so einfach mitansehen, wie Lena eine falsche Entscheidung nach der anderen traf? Vor allem im Blick auf Männer. Durfte sie sich raushalten? Sie war doch die Ältere, die Erfahrenere, die Lebensklügere! Na ja, älter schon. Aber lebensklug?
Irgendwann hatte Lena ihr eine WhatsApp geschrieben: „Ich will, dass du dich ab sofort aus meinem Leben raushältst. Komplett. Ich kann deine weisen Ratschläge nicht mehr hören! Und die frommen schon gar nicht!“ Sie hatte den Kontakt abgebrochen. War nicht mehr ans Telefon gegangen und hatte irgendwann sogar ihren Mobilfunkanbieter gewechselt. Dann war sie weggezogen. Mit Emma. Wohin, hatte sie nicht gesagt. Bis sie eines Tages, ganz zufällig, einer entfernten Verwandten, die gerade im südlichen Bayern Urlaub machte, in die Arme gelaufen war.
Zu Hause hatte die’s natürlich sofort erzählt. „Rat’ mal, wen ich getroffen habe! Das rätst du nie! Ich gehe in Rosenheim durch die Fußgängerzone, da …“
Rosenheim also.
Sie hatte Lenas Adresse und ihre Telefonnummer herausgefunden. Aber konnte sie so einfach anrufen nach all den Jahren? Was sollte sie sagen? Und wenn Lena entnervt auflegen würde, würde es schlimmer sein als zuvor. Sie hatte nachgedacht. Hatte tagelang und nächtelang gegrübelt. Sie hatte mit einer Freundin gesprochen. Die hatte ihr noch einmal die steinalte Geschichte vom verlorenen Sohn erzählt. Dabei war es vor allem um den Vater gegangen, der seinem Sohn alles gegeben hatte, was der verlangt hatte, und der ihn hatte ziehen lassen, ohne Vorwürfe und Vorhaltungen. Einfach so. Und der auf ihn gewartet hatte. Jahrelang. Und der ihn, als er wieder zurückgekommen war, abgerissen und verdreckt, in die Arme geschlossen hatte, als wäre nie etwas gewesen. Und der dann ein großes Fest für ihn veranstaltet hatte. Ein Fest der Elternliebe.
„Der Vater ist Gott“, hatte die Freundin gesagt, „das weißt du. Und der möchte, dass wir’s auch so machen, dass wir ein Vater werden, wie er einer ist. Ein Vater oder eine Mutter. Egal.“
Ja, sie wusste, dass sie nicht da anknüpfen konnte, wo damals alles gerissen war. Sie würde überhaupt nirgends anknüpfen. Denn längst war ihr klar, dass sie es zwar gut gemeint hatte all die Jahre, dass das aber nicht gut gewesen war. Sie hatte Lenas Leben mit zu leben versucht und sie dabei immer wieder nach ihren eigenen in Stein gemeißelten Regeln, Grundsätzen und Maßstäben beurteilt und oft genug verurteilt. Ihre Gespräche hatten aus Vorwürfen und Vorhaltungen bestanden. Das war Liebe, hatte sie damals gedacht. Das war Angst, weiß sie heute. Die Angst, alles würde schieflaufen und am Ende schiefgehen, wenn sie nicht aufpasste. Nein, das war keine Liebe gewesen. Liebe engt nicht ein. Liebe lässt los, Liebe gibt frei. Liebe traut dem anderen etwas zu.
Dann hatte sie angerufen und gefragt, ob sie mal kurz, ganz kurz – Versprochen! – vorbeikommen dürfe. Ohne Vorwürfe im Handgepäck. Und Lena hatte nach kurzem Zögern „Wenn du wirklich willst“ gesagt.
Und nun saß sie auf ihrem Sofa. Verlegen wie ein 13-jähriger Teenager beim ersten Date. Die beiden Mädels spielten im Garten.
„Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen“, stammelte sie und knetete dabei ihre feuchten Hände. „Und weil ich dir sagen wollte, dass es mir unendlich leidtut. Ich war so egoistisch. Es ging eigentlich immer nur um mich. Und dass ich dich ganz doll lieb habe. Und wenn du mich jetzt rauswirfst, dann hab ich’s dir wenigstens gesagt.“
Lange war es danach still. Sie wagte kaum, Lena in die Augen zu sehen. Als sie es dann doch tat, sah sie, dass die mit den Tränen kämpfte. Sie stand dann langsam auf, wie in Zeitlupe, und setzte sich zu ihrer Mutter. Nach ein paar Minuten tastete sie nach ihrer Hand und drückte sie erst vorsichtig, dann fest und immer fester. Und dann brach es aus beiden heraus. Sie lagen sich in den Armen und weinten hemmungslos. Keiner sagte etwas. Keiner konnte etwas sagen. Keiner musste etwas sagen. Aber beiden wussten: Diese Umarmung war das beste Gespräch, das sie jemals gehabt hatten.
Sie blieb nicht mehr lange. Sah noch nach Emma und Paula im Garten. Legte ihnen zwei kleine Weihnachtspäckchen auf den Wohnzimmertisch und zog sich dann den Wintermantel an. „Man soll nicht so lange bleiben nach so langer Zeit!“, sagte sie schluckend.
„Aber übermorgen ist Heiligabend, wir könnten doch zusammen, wo du schon mal hier bist …“, warf Lena ein.
„Nächstes Jahr vielleicht“, sagte sie lächelnd. „Für dieses Mal soll das genügen. Wir müssen uns erst einmal wieder aneinander gewöhnen. Ich muss mich an meine neue Rolle gewöhnen. Und du dich an deine. Damit’s nicht doch irgendwann wieder so wird, wie es nie wieder werden darf.“
Sie nahmen einander noch einmal fest in den Arm, und dann ging sie. Nach ein paar Schritten drehte sie sich um. Lena stand noch in der Tür. Winkte scheu. Sie winkte zurück. „Bis bald!“, rief sie ihrer Mutter nach und ahnte nicht, dass das die schönsten beiden Wörter waren, die die seit vielen Jahren gehört hatte.
„Ja, bis bald!“, rief sie zurück. „Und: Frohe Weihnachten!“
Dann bog sie um eine Häuserecke und griff in ihrer Manteltasche nach dem Handy, in dem sie die Adresse ihres Hotels und die Abfahrtszeit ihres Zuges notiert hatte. Morgen früh, 7.23 Uhr. Es würde eine kurze Nacht werden. Aber eine gute. Die
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