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Gott ist (k)ein Gott der Ordnung

Regeln, Ordnungen: Das ist ein sehr deutsches Thema. Aber ist es auch meins? Klar, ich bin hier geboren und aufgewachsen, in einem ordentlichen Land und bei ordentlichen Eltern. Fand es völlig normal, dass es Hausordnungen, Schulordnungen und Straßenverkehrsordnungen gibt. Habe mich widerspruchslos den Anweisungen aller Ordnungshüter und Saalordner gefügt. Aber mich doch immer auch ein bisschen unwohl gefühlt und klammheimlich infrage gestellt, was andere für nicht nur menschen- sondern für geradezu gottgegeben hielten.


Heute weiß ich: Ordnungen schützen das Leben. Aber sie können es auch töten.


Ist Ordnung eine deutsche Erfindung? Die Frau eines amerikanischen Diplomaten schrieb es neulich so: „Wenn man in Deutschland etwas kennen muss, dann sind es die Regeln!“

Mancher sagt trotzdem: Nein: Unsere eher ungestümen germanischen Vorfahren sind erst durch die römischen Besatzer zu ordentlichen Bürgern geworden. Die Römer - ausgerechnet! Wer würde heute noch an Italien denken, wenn ein Preis für die ordnungsliebendste Nation ausgelobt würde.


Aber, nun ja, was die Deutschen einmal übernehmen, entwickeln sie zur Perfektion, was sie machen, machen sie gründlich.


Ich gehöre dazu. Wie meine Eltern. Mein Vater ließ nur höchst ungern auf dem Wohnzimmertisch liegen, was da nicht in den nächsten fünf Minuten gebraucht werden würde. Alles hatte seinen Platz. Bei meiner Mutter ist das noch heute so. Aber für sie ist diese Ordnung überlebenswichtig, sie braucht sie zur Orientierung, sie ist fast blind.


Ordnung hilft. Zweifellos. Sie spart Zeit. Sie regelt das Leben und das Zusammenleben. Wenn jeder machen dürfte, wonach ihm gerade der Sinn steht, würden wir im Chaos versinken.


Hilft Ordnung auch beim Glauben? Mit sieben bin ich zum ersten Mal in die Jungschar des CVJM Lüdenscheid-West gegangen. CVJM, Christlicher Verein Junger Männer hieß das damals noch. Was mich aber nicht weiter gestört hat - Mädchen fand ich ohnehin eher uninteressant. Hier wurde gespielt, gesungen, erzählt. Auch von Gott. Und natürlich gab es Ordnungen. Spätestens dann, wenn man ein bisschen älter geworden war, gelobte man feierlich, dass man, zum Beispiel, „treu und dienstbereit in der Jungschar“ und „rein an Leib und Seele“ sein wollte. Was das mit der Seele genau bedeutete, war mir damals nicht wirklich klar.


Manchmal sagte einer, wenn er uns „zur Ordnung“ rufen musste: „Gott ist ein Gott der Ordnung!“ Das hat mich an diesem Gott ein bisschen gestört. Denn das klang so nach Wachtmeister und Bademeister, jedenfalls nach einem pingeligem Aufpasser. An so einen Gott wollte ich eigentlich nicht so wirklich glauben. Später habe ich die entsprechende Bibelstelle gesucht - und nicht gefunden. Nur das: „Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens.“ Paulus hat das dem wilden Christenhaufen in Korinth ins Stammbuch geschrieben. Gott will keine Unordnung. Klar. Aber er will nun im Gegenteil nicht einfach Ordnung - sondern Frieden!


Hätte ich nur damals schon nachgeschlagen!


Zu den Ordnungen, die wir damals gelernt haben, gehörte auch, dass man täglich seine „Stille Zeit“ machen solle. Also einen Abschnitt in der Bibel lesen und beten. Das haben wir denn auch alle mannhaft versucht. Tag für Tag. Und sind immer wieder gescheitert. Manchmal, wenn eine Klassenarbeit daneben gegangen war, hatte ich den Verdacht: Das ist die Strafe dafür, dass ich schon zwei Tage keine Stille Zeit mehr gemacht habe. Später wurde mir klar: Wenn Gott so wäre, würde ich wohl in jeder Arbeit eine glatte sechs schreiben. Und nicht nur das. Mir wurde klar: Die Stille Zeit ist kein Gebot, sondern ein Angebot. Ein paar Freunde und ich haben daraufhin beschlossen, künftig nur noch dann in der Bibel zu lesen, wenn uns danach ist. Nur dass wir nach ein paar Monaten feststellen mussten: Es war uns weniger oft danach, als wir erwartet hatten.


Heute bemühe ich mich wieder um eine gewisse Ordnung. Denn es stimmt schon: Wer sich nicht regelmäßig mit einem Abschnitt der Bibel auseinandersetzt, macht es wohl irgendwann auch nicht mehr unregelmäßig.


Und trotzdem: Ordnungen sind mir immer noch unheimlich. Selbst Geschäftsordnungen und Wahlordnungen. Ich bin ein kreativer Herzmensch. Ich möchte spontan und angemessen entscheiden können. Ich möchte es einfach mal anders machen als üblich. Aber ich weiß es längst: Ohne Ordnungen kann Leben nicht gelingen. Kann eine Organisation nicht überleben. Wird Zusammenleben unmöglich.


Immer wieder beeindruckt bin ich von einem Regelwerk, dass sich die beiden Brüder Charles und John Wesley verordnet haben. Immer wieder waren sie aneinander geraten, hatten sich auseinander gesetzt und auseinander gelebt. Dann haben sie 1752 folgende Ordnung vereinbart:


1. Wir wollen mit Bezug aufeinander weder Böses hören noch demselben nachspüren.


2. Sollten wir Böses voneinander hören, so wollen wir nicht schnell sein, daran zu glauben.


3. Sobald wie möglich wollen wir das Böse, das wir voneinander hören, der Person, die es angeht, zur Kenntnis bringen.


4. Ehe wir das getan haben, wollen wir keine Silbe davon weder schriftlich noch mündlich irgendjemand anders mitteilen.


5. Auch nachdem wir es getan haben, wollen wir es niemand anders mitteilen.


6. Wir wollen von keiner dieser Regeln eine Ausnahme machen, es sei denn, wir empfinden es als eine unbedingte Gewissensverpflichtung.


Daran haben sie sich gehalten. Und ihre Beziehung hat gehalten. Überhaupt haben die Wesleys gerne solche Regeln formuliert, weshalb man sie ja auch „Methodisten“ nannte.


Ordnungen und Regeln werden nur dann gefährlich, wenn sie sich verselbstständigen. Wenn sie das Leben nicht mehr schützen sondern deckeln.


Jesus ist deswegen immer wieder mit den frommen Pharisäern aneinander geraten. Nicht, weil ihre Regeln schlecht gewesen wären, sondern weil ihre Regeln oft genug jeden Bezug zum Leben verloren hatten und zu dem, der die Regeln gegeben hatte: Gott. Einmal sagt er ihnen mit Blick auf den Sabbat, den täglichen Ruhetag der Woche. „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, nicht der Mensch um des Sabbats willen.“


Damit ist alles gesagt.

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