Er hatte alles durchgebracht ...
Er hatte alles durchgebracht. Alles, was der Vater ihm anvertraut hatte. Ausgezahlt hatte lange vor der Zeit. Er war der unangepasste Sohn gewesen, der sich nie zufrieden gegeben hatte mit dem, was er vorgefunden hatte. Immer hatte er Anderes gewollt. Mehr. Immer hatte er den Eindruck gehabt, das wahre Leben spiele sich jenseits der heilen Welt seiner Eltern und Geschwister ab. Irgendwann dann hatte er’s einfach mal probiert. Und hatte gefordert, was man eigentlich nicht fordern darf: „Vater, gib mir die Hälfte dessen, was mir nach deinem Tod zustehen würde. Ich will weg! Ich muss weg! Sonst ersticke ich.“ Und der Vater hatte ihn ausbezahlt und hatte ihn ziehen lassen. Einfach so.
Und nun? Nun hatte er alles durchgebracht. Alles, was er damals bekommen hatte. Der unangepasste Sohn war der gescheiterte Sohn. Der sich nicht mehr blicken lassen durfte auf dem Hof seines Vaters. In der Familie. Beim Gesinde. Sie würden sich über ihn hermachen. Ihn zu Tode tuscheln. Ihn auslachen. Ihn verachten.
Aber die Verzweiflung war so groß, dass er bereit war, all das auf sich zu nehmen. Nur wieder ein Dach über dem Kopf haben! Nur wieder so etwas wie ein Zuhause haben! Nur wieder etwas zum Beißen haben! Nur wieder irgendwo dazugehören! Wenn auch verachtet und verlacht.
Von den Schweinetrögen, an denen er zuletzt gesessen und gegessen hatte, taumelte er zurück in die alte verlorene Heimat. Überlegte sich tausendmal auf dem Weg, was er sagen könnte. Fragte sich genau so oft, ob er nicht besser umkehren sollte. Was wäre die größere Schmach! Zurück kommen und eingestehen, dass alles, aber auch alles schief gegangen war? Oder weiter hungern und betteln?
Und dann kommt diese völlig unerwartete und unverhoffte Szene. Eine Szene, die das ganze Evangelium beschreibt: Der Vater steht schon am Horizont. Wartet. Und als er ihn erkennt, den verlorenen und verzweifelten Sohn, rennt er ihm entgegen und schließt ihn in die Arme. Schiebt ihm den Familienring zurück auf den Finger, der vor Schweinemist starrt und zieht und schiebt seinen Sohn zurück ins Heimathaus. Und damit ins Leben.
Und da beginnt ein himmlisches Fest. Ein Lebensfest, das seinesgleichen sucht.
Wie der Vater. Er sucht auch seinesgleichen. Denn wer tut so etwas? Wer ist dazu fähig? Jesus, der diese Geschichte erzählt hat, sagt: Da gibt es nur einen: Den Vater im Himmel. Gott. Den Gott der ausgebreiteten Arme.
Ich stelle mir vor, dass die ausgebreiteten Arme des Vaters in dieser ganz und gar einmaligen Geschichte die ausgebreiteten Arme des Mannes am Kreuz sind. Durchbohrte Arme. Durchbohrt für die Gottvergessenheit der Menschen. Gott - das ist auch Jesus.
Der sagt es so:
Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. Aufgeschrieben im Johannesevangelium, Kapitel 6, Vers 37
Eben das ist das Evangelium, die Gute Nachricht, ach was, die beste Nachricht, die je auf dieser Erde verkündet worden ist. Jesus nimmt die Sünder an. Die Davongelaufenen, die Gescheiterten, die Verzweifelten. Er rennt ihnen entgegen wie der Vater in der Geschichte, die ich eben erzählt habe. Jesus selbst ist ja der Gott, der seinen Menschen entgegenrennt. Bis auf die Erde. Bis in ihren Alltag. Bis in ihre Verzweiflung.
Wer alles durchgebracht hat, muss nicht verzweifeln. Er darf nach Haue kommen. Er ist willkommen bei Gott. Er muss sich nur auf den Weg machen.