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„Was soll ich für dich tun?“

Meine Predigt zur Bundeskonferenz des Blauen Kreuzes, Rittal-Arena, 31. 5. 2015

Markus 10, 46 - 52

Er hatte sich so gar nicht gewöhnt. Er wollte nicht. Er konnte nicht.

Warum konnten alle anderen sehen? Nur er nicht. Warum konnten alle anderen einen ordentlichen Beruf erlernen und ihren Lebensunterhalt verdienen? Nur er nicht. Er musste betteln. Klar, er hatte einen super Platz erobert. Hier kamen die Pilgerströme vorbei, wenn sie „hinauf nach Jerusalem“ wollten. Und viele ließen ein paar Münzen da. Schließlich waren fromme Juden dazu verpflichtet, Almosen zu geben. Aber - er wäre lieber mitgezogen als hier an der Straße zu hocken. Festzukleben. Tagein tagaus. Jahrein jahraus.

In Jericho lebte er. Es hätte ihn schlechter treffen können, klar. Die Stadt war wohlhabend. Sogar der König ließ sich hin und wieder hier blicken. Er hatte sich hier einen prächtigen Winterpalast bauen lassen. Schließlich wurde es hier nie so richtig kalt, 200 Meter unter dem Meeresspiegel.

Aber er kannte den Palast nur vom Hörensagen. Wie er alles und alle nur vom Hörensagen kannte.

Auch von ihm hatte er schon gehört, von Jesus. Dem Lehrer. Dem Heiler. Oben am See Genezareth hatten sie ihn jeden Tag. Aber der See war weit. Viel zu weit,

als dass er hingekonnt hätte. Um vielleicht doch noch eine Chance zu haben. Auf intakte Augen.

Aber heute! Heute würde er kommen! Vorbei kommen. Das hatten sie erzählt. Das hatte sich verbreitet wie ein Buschfeuer. Jesus war auf dem Weg nach Jerusalem. Zum Passafest. Und da musste er durch Jericho. Und vorbei an seinem Stammsitz.

„Jesus kommt. Zu uns. Vielleicht sogar zu mir. Wenn ich schon nicht zu ihm kommen kann! Das ist unfassbar!“ dachte er. Er, Bartimäus, Sohn von Timäus.

Doch dann schwappte eine Welle von Resignation über seine Seele. Jesus würde ja nicht alleine kommen. Hunderte Leute würden mit ihm unterwegs sein. Und Hunderte würden hier am Straßenrand stehen um einen Blick zu erhaschen. Ein gutes Wort. Vielleicht sogar eine heilsame Berührung. Und wenn er Rast machen würde - in Jericho konnte man gut rasten - dann sicher nicht im Haus seines Vaters, sondern bei den Honoratioren der Stadt und der Synagoge. Wie sollte er …! Er war viel zu unbedeutend. Und er war blind.

Aber energisch wischte er die Resignation beiseite, diese Traurigkeit, die ihre Kraft aus Ereignissen bezieht, die überhaupt noch nicht stattgefunden haben. Jesus würde kommen! Ganz sicher! Und er, Bartimäus, würde die erste und vielleicht letzte Chance auf ein anderes Leben nicht ungenutzt verstreichen lassen. Er würde brüllen. Aus Leibeskräften brüllen. Wenn Jesus ihn nicht hören würde, tja, dann hätte er es wenigstens versucht gehabt.

Und er kam. Kam immer näher. Bartimäus hörte und spürte, was die Sehenden nicht hören und spüren konnten. Er spürte sogar, dass dieser Jesus vielleicht mehr war als ein Lehrer. Dass er - vielleicht - sogar der … Messias sein könnte. Vieles, was er in den vergangenen Wochen über ihn gehört hatte, sprach eindeutig dafür.

Geplapper und Getuschel und Reden und Rufen und Schritte und Staub und … jetzt musste er ganz nah sein. Bartimäus nahm allen Mut und alle Stimmgewalt zusammen und brüllte so laut er konnte: „Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“

„Jesus, Sohn Davids … Messias …“ - hatte er das eben wirklich gerufen? Woher wusste er? Wer hatte da aus ihm gesprochen.

Das Herz klopfte Bartimäus bis zum Hals. Was würde nun passieren?

Jajaja! Es passierte! Das Unfassbare passierte! Jesus blieb stehen! Er hatte ihn gehört! Hatte ihn aus dem massenhaften Stimmengewirr herausgehört..

Und schon wurde Bartimäus auf die wackeligen Füße gezerrt und zu ihm hingeschoben. Den alten Bettlermantel streifte er noch schnell von den Schultern. Er brauchte ihn nicht. Nicht jetzt. Er war jetzt kein blinder Bettler. Er war der, den Jesus gerufen hatte.

Und wie benommen stand er ihm auf einmal gegenüber. Ja, er stand. Auf Augenhöhe mit dem Meister. Was würde der sagen? Was würde der tun?

Er sah ihn an. Aufmerksam. Gütig. Bartimäus sah es nicht. Aber er spürte es. Was ja eigentlich noch mehr war als sehen. Dann fragte er. Jesus fragte ihn.

„Was willst du? Was soll ich für dich tun?“

Bartimäus war auf einmal unsicher. Was wollte er wirklich? Wollte er wirklich gesund werden? Wollte er das alte Leben tatsächlich zurücklassen wie den alten Bettlermantel? Wollte er die Abhängigkeit von anderen aufgeben und auf eigenen Beinen stehen? Verantwortung übernehmen? Seinen Lebensunterhalt mit Arbeit verdienen? Hatte dieses alte Leben nicht auch seine Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten? Er konnte vieles nicht. Aber deshalb musste er auch vieles nicht.

„Was soll ich für dich tun?“ Will ich wirklich gesund werden? Will ich befreit werden? Ich, der Blinde soll auf einmal nicht mehr blind sein? Ich, der Bettler, soll auf einmal nicht mehr betteln? Irgendwie hab mich wohl doch gewöhnt. Irgendwie haben sich ja alle gewöhnt. Wer bin ich denn, wenn ich nicht mehr der blinde Bettler bin?

Doch dann war’s klar. Glasklar. Ja! Er wollte gesund werden! Er wollte sehen können. Er wollte ein neues Leben beginnen!

Und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. „Rabbuni!“ sagte er. Meister. Herr. „Ich möchte wieder sehen können!“ Ich möchte wirklich und wahrhaftig

Und Jesus? Der rührte ihn nicht einmal an, sondern sagte nur still und bestimmt:

„Geh nur. Dein Vertrauen hat dir geholfen.“

Geh nur. Ja, du kannst jetzt gehen, du darfst jetzt gehen, du musst jetzt aber auch gehen.

Geh nur. Zwei Wörter, die ein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Nichts, was bisher gegolten hat, gilt mehr. Nichts, was bisher gehindert hat, hindert mehr. Nichts, was bisher dein Leben bestimmt und begrenzt hat, gilt mehr.

Und Bartimäus? Träumt er? Ist er wach? Er sieht. Ja! Er sieht. Und er geht. Tapsend. Schrittchen für Schrittchen. Droht umzuknicken. Droht zu stolpern. Droht zusammen zu sacken. Droht anzustoßen. Anzuecken. Aber er geht. Geht und geht und geht immer fester und bestimmter.

Aber wohin geht er? Wohin soll er jetzt gehen. Wohin kann er gehen? Es geht nicht einfach zurück in den alten Alltag. Der liegt unter seinem alten Mantel begraben. Er muss nicht lange überlegen. Und geht hinter Jesus her. Der hat ihm nicht nur die Augen geöffnet. Der hat nicht nur seinen Körper gesund gemacht. Der hat ihm das Herz geöffnet. Der hat ihm die Seele gesund gemacht. Der hat ihm ein neues Leben geschenkt. Was soll er zurück! Er kann einfach nicht zurück! Sein Leben hat eine neue Mitte. Jesus. Und ein neues Ziel: Da sein, wo Jesus ist.

Und er geht und geht und geht mit ihm nach Jerusalem. Und er geht nicht allein. Er geht mit vielen anderen. Die ihn mit begeistertem Applaus in ihre Mitte nehmen. Er hat Jesus. Er hat Gott. Und er hat Menschen. Eine Familie. Brüder. Schwestern. Freunde. Er geht und geht und geht. Und er geht mit ihnen in ein neues Leben.

„Was soll ich für dich tun?“

Ich stelle mir vor, dass Jesus mir dieselbe Frage stellt. Heute. Und immer wieder. Ich habe gebetet. Ich habe ihn mit meinen Fragen und Problemen bestürmt. Habe ihm die Verletzungen und Vernarbungen meines Lebens hingehalten. Habe meine Schmerzen und meine Verzweiflung in den Himmel geschrieen. Und nun steht er vor mir, schaut mir in die Augen, aufmerksam und gütig, und fragt mich: „Was soll ich für dich tun?“

Und ich bin irritiert und bewegt und beeindruckt. Er fragt mich.Und ich soll antworten. Ich darf antworten.

Aber warum fragst du überhaupt, Jesus? Es ist doch klar, was du für mich tun sollst. Du sollst mir bitte aus dem Schlamassel meines Lebens helfen. Meine Probleme wegmachen. Die Krankheiten heilen. Das schwarze Loch in der Seele hell machen.

Aber ich stelle mir vor, dass Jesus nicht locker lässt.

„Soll ich das wirklich tun? Willst du gesund werden? Willst du’s wirklich? Denn wenn ich’s tue, bist du ein anderer, eine andere. Du bist dann nicht mehr der Blinde, der Bettler, der Kranke, der Versager. Dann bist nicht mehr das Opfer, die Verletzte, die Verlassene. Du bist dann jemand anderes. Bekommst eine neue Identität. Eine neue Persönlichkeit. Musst dich anders definieren. Dich anders präsentieren. Willst du das? Traust du dich das? Traust du dir das zu? Traust du mir das zu?

Da kann man schon mal ins Grübeln kommen. Mancher hat nicht nur ein Problem. Er ist sein Problem. Manche hat nicht nur eine Behinderung. Sie ist ihre Behinderung.

Einmal erzählte mir jemand von einer älteren Frau, der es eigentlich immer schlecht geht. Davon erzählt sie dann auch mehr oder weniger genüsslich bei jeder Begegnung. „Das Schlimmste, was man ihr antun kann, ist zu sagen: Was siehst du heute gut aus!“ Sie will nicht gut aussehen. Sie ist ihre graue Gesichtsfarbe, ihr hinkender Gang. Wehe, das nimmt ihr jemand! Willst du gesund werden? Willst du frei werden? Willst du ein anderer, eine andere werden? Überleg dir’s! Du kannst dich dann nicht mehr hinter deiner Krankheit verstecken. Dich nicht mehr in deinen Problemen verkriechen.

Du stehst dann nicht mehr verletzt am Rande des Fußballfeldes und kannst über die anderen lamentieren, du spielst dann mit. Wieder mit. Musst dich anstrengen. Musst kämpfen. Musst dich engagieren. Musst Verantwortung übernehmen.

Willst du das?

Denn so schlimm jede Einschränkung und Behinderung deiner Lebensmöglichkeiten auch sein mag - sie ist zuweilen auch bequem. Klar, du bist auf die Wohltaten anderer angewiesen - das ist mühsam. Aber niemand erwartet Wohltaten von dir - das ist entlastend.

Ich weiß, was ich will, ist nicht allzu viel wert. Mancher will und will und schafft’s doch nicht. Viele von euch können ein trauriges Lied davon singen. Der Wille allein reicht nicht. Du brauchst Hilfe. Du brauchst Helfer. Du brauchst eine Therapie. Aber am Anfang muss dann wohl doch dieser Wille stehen. Nein, ich will so nicht weiter leben. Ja, ich will mir helfen lassen. Ohne dieses „Ich will“ geht nichts. Gar nichts.

Wer’s wagt, dem wird geholfen. Nicht immer gleich. Nicht immer sofort. Aber immer dann, wenn du zu Jesus sagst: „Ich möchte wieder sehen können!“ Und wenn Jesus sagt: „Geh, dein Vertrauen hat dir geholfen.“ Das dauert manchmal lang. Das ist manchmal ein rauer und steiniger Weg. Zuweilen liegt’s einfach daran, dass ich mit meinem Willen noch nicht so weit bin.

Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe meinen Vater viele Jahre durch seine Alkoholkrankheit begleitet. Habe mit ihm gekämpft, manchmal gewonnen, aber meistens verloren. Doch am Ende ist er frei geworden. Er ist zu Jesus gegangen und hat gesagt: „Ja, ich will!“ Und Jesus hat gesagt: „Geh nur, dein Vertrauen hat dir geholfen!“ Und dann ist er gegangen, mit ihm gegangen. Und ein paar

Monate später befreit und befriedet gestorben. Nein, nicht gestorben, heimgegangen.

Eigentlich wollte er noch leben. Wollte anderen Alkoholikern helfen auf dem Weg zu diesem Jesus. Dazu aber ist es nicht mehr gekommen. Und trotzdem: Im Krankenhaus hat er vielen gesagt und noch mehr gezeigt, dass dieser Jesus der Heiland ist. Der gesund machen kann. Der einen unendlich langen Atem hat. Der keinen aufgibt.

„Geh nur! Geh mit mir!“ Ja, Jesus, das mach ich. Das will ich. Mit wem sonst sollte ich gehen! Aber sag mir, wohin wir gehen. Was ist der neue Sinn meines Lebens? Wofür bin ich künftig da? Womit fülle ich, was bislang meine Krankheit ausgefüllt hat? Meine Sucht? Welche Aufgabe hast du für mich?

Ich weiß nicht, was aus Bartimäus geworden ist. Aber ich glaube, dass der ehemalige Bettler einer geworden ist, der anderen Bettlern erzählt hat, wo er satt geworden ist, wo es etwas zu essen gibt.

Ich liebe dieses Bild. Ich habe es aus dem „Brief an einen Buddhisten“, den der indische Theologe Daniel T. Niles einmal geschrieben hat:

„Evangelium verkündigen heißt Zeugnis ablegen. Das geschieht so, dass ein Bettler dem anderen erzählt, wo man etwas zu essen bekommen kann. Der Christ hat nichts anzubieten aus einem Vorrat, über den er verfügt. Er hat nichts angesammelt. Er ist nur Gast am Tisch seines Herrn, und als Botschafter des Evangeliums lädt er die anderen dazu ein.“

Das sind wir. Das bleiben wir. An mehr würden wir uns verheben. Wir sind Bettler. Wir bleiben Bettler. Wir haben leere Hände. Jedenfalls viel zu leere Hände, um Menschen dauerhaft und nachhaltig satt zu machen. Viel zu leere Hände um die Welt vor den drohenden Katastrophen zu retten. Viel zu leere Hände um auch nur einem einzigen Menschen das zu geben, was seine Seele in Zeit und Ewigkeit satt macht.

Wir leben nicht aus unseren eigenen Vorräten. Wir bedienen uns aus den Vorratskammern Gottes. Brauchen seine Kraft. Jeden Tag. Seine Barmherzigkeit. Jede Stunde. Seine Liebe. Jede Minute. Und wir dürfen uns bedienen. Dürfen uns satt essen bis zum Gehtnichtmehr.

Und dann laden wir ein an die himmlische Tafel. Zum dreieinen Gott. Dem Vater, dem Sohn, dem Heiligen Geist. Dem Schöpfer des Universums. Dem „Ich bin da. Ich bin immer da. Ich bin immer für dich da.“ Wir laden ein zu dem Gott, der sich in die Hände der Menschen gibt. Der so klein wird, dass er in einen Futtertrog passt. An ein römisches Hinrichtungskreuz. In ein Felsengrab. Wir laden ein zum Gekreuzigten und Auferstandenen.

„Was soll ich für dich tun? Willst du gesund werden? Willst du satt werden?“

Willst du das? Ja? Dann geh nur. Geh zu ihm. Und geh mit ihm. Dein Vertrauen hat dir geholfen! Es wird dir immer wieder helfen auf deinem Weg!

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