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Reden ist besser als posten

Es ist nicht zu übersehen und nicht zu überhören: Die Sitten werden rauer, die Sprache wird rüder. Besonders wer in der Öffentlichkeit steht, bekommt immer wieder mal die volle Breitseite. „Shitstorm“ nennen wir das. Kein Wunder, dass sich mancher kaum noch heraus wagt mit seiner Überzeugung. Spitzenjobs sind nur noch etwas für Hartgesottene.

In der Politik. In der Wirtschaft. Und in der Kirche. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich erinnere mich an meine Zeit als Sprecher vom Wort zum Sonntag. Direkt nach der Sendung klingelte zuhause das Telefon. Oft mit freundlichen Reaktionen, zuweilen aber auch mit ausgesprochen unfreundlichen. Von ganz und gar unfrommen, aber auch von frommen Zuschauern. Als ich einmal Pastor Uwe Holmer gewürdigt hatte, weil er in seinem Pfarrhaus seine „Gegner“, die Honeckers, beherbergt hatte, wurde ich von einigen Bewohnern der Ex-DDR wüst beschimpft. In der Nacht habe ich schlecht geschlafen. Bei jedem Auto, das vorbei fuhr, dachte ich: Gleich wirft dir jemand die Scheiben ein.

Aber das waren nur einzelne Stimmen. Laut zuweilen, aber nur von mir zu hören. Da ist es für die Sprecherinnen und Sprecher vom Wort zum Sonntag heute erheblich unkomfortabler. Neulich erzählte mir eine: „Da kommen echt heftige Angriffe, teilweise unter der Gürtellinie. Und manchmal anzeigewürdig.“ Und: Sie kommen meist nicht mehr direkt und persönlich sondern indirekt und unpersönlich und sind alleine darum schon oft unflätiger und unverschämter. Die Qualität hat sich verändert. Und die Quantität. Alles, was einer denkt und sich ausdenkt, kann er öffentlich machen. Und muss dabei dem, den er beschimpft, nicht in die Augen sehen. Früher musste er Emails verschicken, noch früher Briefe. Das war aufwändig und teuer. Heute reicht ein Post in facebook.

Die Unpersönlichkeit enthemmt.

War früher alles besser? Ich weiß nicht. Was da mancher an Küchen- und Stammtischen vom Leder gelassen hat, war auch nicht von schlechten Eltern. Aber eben: Außerhalb der Küchen- und Kneipenwände hat das niemand gehört. Und zu den Beschimpften ist es erst recht nicht gekommen.

Ein erster Tabubruch war die schräge Fernsehserie „Ein Herz und eine Seele“ mit dem berühmten Ekel Alfred, der in Doppelrippunterhemd und Hosenträgern sagen durfte, was sonst niemand öffentlich zu sagen wagte. Heute hätte so eine Serie gar eine Chance mehr im Fernsehen. Die Alfreds und Agathes sind Legion. Im Netz.

Muss das so bleiben? Die Grünen-Politikerin Renate Künast hat vor ein paar Monaten einen mutigen Angriff nach vorn gewagt. Sie hat einige von denen, die sie im Netz regelmäßig wüst beschimpfen und beleidigen, persönlich besucht. Mit überraschendem Ergebnis. Die Menschen, die sie da traf, waren von Angesicht zu Angesicht »höflich« und oft »wohlsituierte Leute«. Manche waren geradezu überrascht: „Sie gibt es ja wirklich! Sie sind ja - ein Mensch …“ Künasts Erkenntnis: »Wenn man sagt, dass die wertegeleitete Mittelschicht in einem Land auch Basis ist für eine gut funktionierende Gesellschaft, dann haben wir ein Problem.«

Es sind nicht nur die anderen. Es sind - wir. Auch wir „wohlsituierten“ Christen?

Dabei haben wir eine unvergleichlich gute Regel für unseren Umgang miteinander, privat und öffentlich. „Jeder soll stets bereit sein zu hören, aber sich Zeit lassen, bevor er redet, und noch mehr, bevor er zornig wird. Denn im Zorn tut niemand, was vor Gott recht ist.“ Jakobus 1, 19 und 20.

Christen gehen anders miteinander um. Und mit denen, die nicht so denken und glauben und leben wie sie. Sie hören zu, sie fragen nach, sie schauen hin. Sie warten und schweigen und beten. Sie sind achtsam und wertschätzend.

Vor vielen Jahren schon habe ich gelernt: Wenn du dich geärgert hast über jemanden und ihm das in einem Brief klipp und klar geschrieben hast, dann lass den Brief erst einmal einen Tag liegen, bevor du ihn abschickst. Oder noch besser: Ruf an. Oder: Fahr vorbei, wenn’s geht. Reden ist immer besser als schreiben.

Was damals richtig war, kann heute nicht falsch sein.

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