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Gottessehnsucht und Gottes Sehnsucht

Der Reiseführer für Jordanien warnt: „Outen Sie sich nicht als Atheist!“ Warum? Weil das dort niemand nachvollziehen, geschweige denn verstehen könnte. Jordanien ist ein hochreligiöses Land. Wie fast alle Länder unserer Erde. Atheisten gibt es hier nicht. Wenigstens keine, die öffentlich ihre Stimme erheben würden.

Atheisten sind typisch westlich. Typisch westeuropäisch. Überall in unserer Welt spielt die Religion eine wichtige Rolle. Nicht nur in der arabischen Welt, auch in der jüdischen, der afrikanischen, der asiatischen. Nur nicht bei uns. Hier sind selbst viele, die sich noch an die Kirche halten, eher areligiös. Jedenfalls hat der Glaube für die praktische Gestaltung des Alltags meist keine wirkliche Relevanz. Man betet noch, wenn Not am Mann und an der Frau ist. Aber das ist dann doch oft nur wie der Anruf beim ärztlichen Notfalldienst, wenn nichts anderes mehr hilft.

Wir hierzulande finden das normal. Wir haben uns gewöhnt. Aber nein, normal ist das eigentlich nicht. Siehe Jordanien. Und gewöhnen wollen wir uns auch nicht. Menschen sind religiös. Alle. Haben einen Sensus fürs Übernatürliche. Überall. Suchen den Kontakt zu einer Wirklichkeit, die ihre eigene Wirklichkeit überragt. Auch bei uns.

Auf Teneriffa, in einer kleinen Gemeinde, denken wir darüber nach. Genauer: In der Gemeinschaft Evangelischer Christen, die sich regelmäßig in der Skandinavischen Kirche von Puerto de la Cruz trifft. Ich bin dort für ein paar Wochen der Pastor. In einem Gespräch über die Bibel sagt einer: „Ich hatte früher eigentlich immer Sehnsucht nach Gott. Beim Bergwandern sind mir manchmal die Tränen gekullert. Ich war überwältigt von der Größe und Schönheit der Natur. Aber eigentlich war ich schon da überwältigt von der Größe und Schönheit Gottes. Ihn habe ich gesucht. Ich wusste das nur nicht.“

Wir sprechen darüber, ob das wohl vielen Menschen so geht. Auch hier auf den Kanaren. Einheimischen, Urlaubern, Überwinterern. „Ja“, sagt eine ältere Frau, „ich glaube, dass alle Menschen Sehnsucht nach Gott haben.“ Also auch in Westeuropa? „Ja, auch da!“ Aber warum spielen die Kirchen eine immer unbedeutendere Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung? Und warum können auch die freien und ganz freien Gemeinden die Erosion des christlichen Glaubens in unserer Gesellschaft nicht stoppen? „Weil‘s uns zu gut geht?“ überlegt einer. „Weil wir unsere Sehnsucht nach Gott an tausend anderen Stellen zu stillen versuchen?“ Unser modernes Leben ist ein Leben der Millionen und Abermillionen Ablenkungen. Auch der Ablenkungen von Gott. Online und offline. „Sonst müsste es hier in unserer Kirche viel voller sein!“

Und nun? Finden wir wenigen, die wir mit Ernst und Begeisterung als Christen leben, uns damit ab? Es wäre fatal. Besser wäre, achtsam zu leben. In der Nachbarschaft. Im Betrieb. In unseren Vereinen. Und im Urlaub. Auf die Menschen und auf ihre verschämten Hilfeschreie zu achten. Sie wahrzunehmen, Ernst zu nehmen. Sie in unsere Gebete zu nehmen. In unser Leben zu lassen. Und einfach für sie da zu sein, wenn sie sich an den Grenzen ihrer Lösungsmöglichkeiten wundreiben.

Hier auf Teneriffa heißt das für die kleine evangelische Gemeinde: Türen auf und Herzen auf! Räume teilen! Leben teilen! Unvollkommenheiten inklusive. Und besonders auch die willkommen heißen, die anders denken, anders empfinden, anders leben. Ihrer Sehnsucht nachspüren. Sich gemeinsam in die Barmherzigkeit Gottes wagen. Immer wieder neu.

Das ist zuweilen kräftezehrend, und es führt zu inneren Spannungen. Es ist allemal sicherer und gemütlicher die Türen zu schließen, unter sich zu bleiben und über die böse Welt da draußen zu lamentieren. Aber das hieße, Gott mit seiner Sehnsucht allein zu lassen. Denn die Sehnsucht der Menschen ist doch immer nur ein Echo seiner Sehnsucht. Ja, Gott hat Sehnsucht nach seinen Menschen! Darum hat er den Himmel verlassen und ist ihnen hinterher gelaufen bis in ihre irdische Lebenswirklichkeit. Gott hat Sehnsucht. Darum muss uns nicht bange sein. Auch nicht um unser weithin religionsloses Westeuropa.

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