Hohe Lobgesänge, tiefe Verzweiflung
Ahnen sie, was kommt? Wohl kaum. Obwohl: Manches, was an diesem Abend passiert ist, war schon sehr sonderbar, ja, verstörend. Und mancher von ihnen wird ein flaues Gefühl im Magen gehabt haben. Sie sind in der Höhle des Löwen. In Jerusalem. Da, wo die Gegner ihres Meisters Jesus viel zahlreicher und vor allem gefährlicher sind als oben in ihrem Galiläa.
Sie haben feierlich das Passahfest eröffnet, Jesus und seine Jünger. An dem Abend, den man bis heute den Sederabend nennt und dessen Regeln seit hunderten von Jahren akribisch befolgt werden. Bis heute. Dazu gehört das traditionelle Passahmahl und eine lange Liturgie, die voller Symbolik steckt und die Jahr für Jahr an die Befreiung aus ägyptischer Sklaverei erinnern soll. Gott, der Herr, hat dieses Fest persönlich so angeordnet. Damit sein Volk nicht vergisst.
Passah, hebräisch Pessach, heißt Vorüberschreiten. Weil Gott damals an den Häusern der Israeliten vorübergechritten war und sie verschont hatte vor den Strafen, die den Ägyptern und ihrem Herrscher galten.
Sie haben gut gegessen und süßen Wein getrunken. Sie haben gebetet und gesungen. Nun wandern sie hinunter ins Kidrontal und erreichen schon bald den Fuß des Ölbergs. Da ist ein Garten. Einer mit vielen alten Oliverbäumen. Und mit einer Ölpresse. Die heißt auf hebräisch Gat Schmanim. Daher hat der Garten seinen Namen. Wir sagen: Gethsemane.
Und in diesem Garten, den bis heute jeder Jerusalem-Pilger besucht, beginnt das, was wir Passion nennen. Die Leidensgeschichte des Jesus von Nazereth, des Menschensohns, des Gottessohns.
Bald schon wird er sich zurück ziehen zum Gebet. Bald schon wird er mit seinem Vater ringen und ihn anflehen, ihm diesen Kelch, dieses Schicksal zu ersparen. Bald schon wird er traurig sein, dass seine Jünger selig schlummern statt an seiner Seite vor Gott für ihn einzutreten. Und bald schon wird sich eine Kohorte mit Soldaten des Hohenpriesters nähern. Mit seinem Jünger Judas an der Spitze. Bald schon wird der ihn mit einem Kuss begrüßen - und damit verraten. Und bald schon wird Jesus abgeführt werden. Zuerst in den Palast des Hohenpriesters, dann in die Festung Antonia zum römischen Statthalter Pilatus und schließlich auf den Hügel Golgatha, die Hinrichtungsstätte der Römer in Jerusalem.
Eben noch traute Gemeinschaft und Lobgesänge und ein festliches Mahl und Erinnerungen an die großen Wunder Gottes in der Vergangenheit. Und jetzt allein und verheult und verängstigt. Und bald schon der verzweifelte Schrei: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen.“
Kennen Sie das? Nein, nicht so. Aber mancher kann sich an ähnliche Situationen in seinem Leben erinnern. Alles war gut und warm und harmonisch und auf einmal passt nichts mehr zusammen. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel hat die Diagnose des Arztes alles verändert. Als hätte ein Erdbeben alles zerstört, woran man sich bisher festgehalten hatte. Und auf einmal macht das Gottvertrauen Platz für zornige Zweifel, für bittere Fragen. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Warum das manchmal so geht in unserem Leben? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass sich jeder in einer solchen Lage zu diesem Jesus flüchten kann. Dem es ja noch viel schlimmer ergangen ist und der darum versteht, wie’s uns gerade ergeht. Und der darum wirklich trösten kann. Und Durchhaltekraft schenken kann.
Auf so viele Fragen in unserem Leben gibt es keine Antworten. Wenigstens keine, mit denen wir so richtig etwas anfangen könnten. Aber es gibt ihn. Den Mann, der vor uns von den Lobgesängen in die tiefste Verzweiflung gegangen ist. Er schließt uns in seine Arme. Er tröstet uns mit seinen durchbohrten Händen.
Er kann das, weil er ja nicht nur der Mann am Kreuz ist. Er ist vor allem auch der Auferstandene vom Ostermorgen. Der Todesüberwinder. Er lebt. Und er zieht uns durch alle unsere Tode, die kleinen und den einen großen, in sein Leben. Sein ewiges Leben. Am Ende ist alles hell. Am Ende wird alles gut. Am Ende klingen wieder die Lobgesänge. Und sie werden in alle Ewigkeit nicht verstummen.